Der Versicherungsbeamte und Schriftsteller Franz Kafka, geboren 1883 in Prag (damals Österreich-Ungarn), an Tuberkulose verstorben 1924 in Kierling (Österreich), zählt wohl zu den interessantesten, weil facettenreichsten Persönlichkeiten der deutschsprachigen Literaturgeschichte. So werden sein Leben sowie sein Werk bis heute immer wieder international wissenschaftlich sowie populärwissenschaftlich rezipiert. Und auch in der Popkultur ist Kafka längst zu finden, z. B. in Graphic Novels, auf YouTube oder in Videospielen. Was aber macht die bleibende Aktualität und Faszination aus?!

Aktualität der Lebensthemen Kafkas
Bestimmte Themenkomplexe spielten in Kafkas Leben durchgehend eine entscheidende Rolle. Teilweise explizit, mitunter auch nur implizit hat sich dies auch im Werk niedergeschlagen, weshalb ich auf einige Aspekte erst weiter unten im Zusammenhang mit seinen Schriften eingehe. Nachfolgend habe ich zunächst einige große Lebensthemen ausgewählt, die sich durch ihre bleibende Aktualität besonders auszeichnen.
Selbstzweifel, Ängste, Depression
Kafka hatte Zeit seines Lebens mit Selbstzweifeln zu kämpfen, ein erster Faktor, der vielen auch heute sicherlich bekannt vorkommen mag. Denn seine Zweifel bezogen sich einerseits auf das eigene Schreibtalent, schlugen sich aber ebenso in einer generellen Angst nieder, (beruflichen wie privaten) Anforderungen seiner Umwelt nicht zu genügen. Sicherlich u. a. damit (sowie mit weiter unten zu nennenden Aspekten) zusammenhängend litt er immer wieder unter depressiven Zuständen, auch das eine durchaus auch heutzutage leider nicht seltene gesundheitliche Problematik.
Lebensreform
Darüber hinaus war ihm die eigene körperliche Gesundheit sehr wichtig, er war glühender Anhänger der Lebensreformbewegung. So ernährte er sich beispielsweise fast ausnahmslos vegetarisch – dass dieser Ernährungsstil derzeit geradezu Trend ist, hätte ihm sicher gefallen. Außerdem vertrat er z. B. das ebenfalls aus der Reformbewegung stammende Prinzip, jedem Menschen stehe zwar grundsätzlich Wahlfreiheit zu, aber vorrangig gegenüber den aus der Umwelt an ihn gestellten Anforderungen habe er stets sich selbst gegenüber eine Wahlpflicht. Dieser folgend habe er sich selbst gegenüber die Verantwortung, den eigenen Platz im Leben wählen, d. h. das zu werden, was er werden möchte. Diese Maxime würden wohl die meisten von uns heute ohne Weiteres anerkennen. Und die einen Schritt weiter gedachte Konsequenz daraus ist sogar mehr als ermutigend und eignet sich gar als positive Affirmation: Ich habe jedes Recht, frei von äußeren Einflüssen zu entscheiden, was bzw. wer ich sein möchte.
Werkthemen und Schreibstil bei Kafka
Inhaltlich setzt Kafka sich in seinen Werken mit einer Vielzahl von Themenbereichen auseinander. Diese lassen sich zumeist zusammenhängend mit seiner privaten wie beruflichen Lebenswelt interpretieren. Sie sind jedoch ebenso wie die beschriebenen Lebensthemen von bleibender Aktualität auch für eine gegenwärtige Leserschaft.
Inhalte
So finden sich einerseits Aspekte der Identitätsfindung, Entfremdung und Isolation sowie in diesem Kontext auch implizit der sozialen Ausgrenzung. Andererseits wird auch das Gefühl der Machtlosigkeit thematisiert, vielfach exemplarisch angesichts einer übermächtigen Bürokratie. Darüber hinaus ist der Themenkomplex von Schuld und Strafe im Kontext des Gesetzes wiederholt zu finden. Ein (wie Tagebücher und Briefe sowie literarische Tete zeigen) sowohl das Leben als auch die Literatur Kafkas immer wieder implizit oder explizit beherrschender Gesichtspunkt ist der tiefempfundene Vaterkomplex. Schließlich treten in seinem Werk in chronologisch zunehmender Häufigkeit Tierfiguren auf, deren Bedeutung wächst somit im Verlauf seines künstlerischen Schaffens. Hierbei ist insbesondere auf die früh genutzte zentrale Metapher des Ungeziefers zu verweisen.
Stil
Über dessen generellen Schreibstil schreibt sein Biograf Reiner Stach, Kafka habe stets
spontan die einprägsamsten Bilder [gefunden], ohne je forciert nach Pointen zu suchen: „Die Schweiz während der ersten Morgenstunden sich selbst überlassen“ […] und „Die Beine gehn einem auseinander auf den großen Pariser Strassen“
Stach (2016), S. 487.
Die von Stach angeführten Beispiele zeigen sehr schön, was er meint: Man hat unmittelbar ein Bild vor Augen, wenn man sie liest. Allgemein enthalten Kafkas in ihrer Stimmung vielfach düster und in ihrer Handlung mitunter grotesk anmutenden literarischen Werke häufig auch komische Elemtente.
Kafka als Schriftsteller
Nachdem er jahrelang um die eigene Identität als Schriftsteller gerungen hatte, immer wieder am eigenen Talent (ver-) zweifelte, fand Kafka 1913 endlich förmlich zu sich selbst in seinen Werken.
Der Roman bin ich, meine Geschichten sind ich.
Kafka (3.1.1913)
Mit dieser Aussage erklärt er sich gleichsam als identisch mit seinem Werk: Ist das Werk nicht mehr, kann auch er nicht mehr sein. Es geht dabei aber nicht um einen einzelnen Roman, sondern um das gesamte Werk, im Sinne des schriftstellereischen Schaffens bzw. der Fähigkeit dazu.
Das einzige, was ich habe,
Kafka (10.-16.6.1913)
sind irgendwelche Kräfte, die sich […]
zur Literatur koncentrieren […].
Kafka formuliert hier eine selbstbewusste Definition von sich als Schriftsteller. Er erkennt jetzt seine grundsätzliche Fähigkeit zum Schreiben an – und zwar ganz unabhängig von durch Umwelt oder den eigenen (psychischen und/oder physischen) Zustand erforderlich werdende Unterbrechungen, die ihn zuvor stets in Sinnkrisen und Selbstzweifel stürzten.
Definition SchriftstellerIn nach Kafka
Aus dieser Identitätsfindung Kafkas ist auch seine allgemeine Definition des Schriftstellers zu entnehmen (für unsere Gegenwart übertrage ich sie jetzt natürlich ebenso auf die Schriftstellerin).
Das macht laut Kafka ein/e SchriftstellerIn aus:
- nicht notwendig: Gelingen der Werke
- nicht hinreichend: dringendes Schreibbedürfnis
- notwendig: stetes Vorhandensein der zum Schreiben erforderlichen Kräfte (meint wohl Fähigkeit oder Können)
Bei Versagen bzw. wenn ein Werk nicht gelungen ist, hat der/die SchriftstellerIn ihre Fähigkeit nicht dauerhaft verloren, so Stachs weiterführende Deutung von Kafkas Definition, sondern kann nur vorübergehend nicht auf sie zugreifen, denn sie bleibt für immer ein Teil von ihm/ihr, selbst wenn er/sie sie nie wieder nutzen würde.
Wie definiert ihr SchriftstellerIn?
Was sagt ihr zu Kafkas Definition? Welche Kriterien empfindet ihr als ausschlaggebend? Ist das Gelingen literarischer Werke nicht ohnehin eine weitgehend subjektive Bewertung? Würdet ihr der Ansicht zustimmen, dass auch eine womöglich seit jahrzehnten nicht mehr schreibende Person, die ein herausragendes literarisches Werk verfasst hat, dennoch bis an ihr Lebensende SchriftstellerIn bleibt? Ich freue mich auf rege Diskussion in den Kommentaren zu diesen spannenden Fragen!
Weiterführendes & Links
- Sehr ausführliche, toll geschriebene Kafka-Biografie von Reiner Stach in drei Bänden, erschienen in Frankfurt a. M., ursprünglich bei S.Fischer, dann auch im Fischer Taschenbuch Verlag (s. u. TB):
Kafka. Die frühen Jahre (TB 2016, ISBN: 978-3-596-03140-5).
Kafka. Die Jahre der Erkenntnis (TB 2010, ISBN: 978-3-596-18320-3).
Kafka. Die Jahre der Entscheidungen (TB 2004, ISBN: 978-3-596-16187-4). - Kafka, Franz: Brief an Felice Bauer vom 2. zum 3.1.1913
- Kafka, Franz: Brief an Felice Bauer [10.-] 16.VI.13)
- Zeitgeister – Being Kafka beim Goethe-Institut
- Umfangreiche Website über Kafka, sein Leben und sein Werk von Reiner Stach und dem Verlag S. Fischer
- Artikel über Franz Kafka auf Wikipedia
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