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Antisemitismus in sozialen Medien aktuell

Unterschiedliche Ausprägungen von Antisemitismus in sozialen Medien konnte man jüngst im Zusammenhang mit dem Fall eines mehr oder minder bekannten deutsch-jüdischen Musikers beispielsweise auf X (ehemals Twitter) und Facebook mal wieder massenhaft erleben. Einen kleinen Überblick zu besonders häufigen Erscheinungsformen möchte ich anhand dieses Beispiels einmal verdeutlichen. Ich beschränke die Analyse exemplarisch auf diese beiden Dienste, um den Artikelumfang einzugrenzen.

Mann sitzt vor einem Laptop, darauf etwas Verwischt-Dunkles, symbolisch für Antisemitismus in sozialen Medien

Aufhänger für Antisemitismus in sozialen Medien: Ein (!) Antisemitismus-Vorwurf…

Doch zunächst kurz zum Hintergrund. Der besagte 41-jährige Musiker hatte im Herbst 2021 den Manager eines Hotels in Leipzig wegen antisemitischen Verhaltens angezeigt. Der Fall hatte öffentlich für Aufsehen gesorgt und verbreitet hatten Menschen Zivilcourage gezeigt. Es hatte eine Vielzahl von Solidaritätsbekundungen mit dem Musiker einerseits, Ablehnung gegenüber dem Beschuldigten und seinem Arbeitgeber andererseits gegeben. Das Ermittlungsverfahren war jedoch letztlich eingestellt worden, da sich keine Beweise für die Schuld des Managers gefunden hatten. Stattdessen hatte man dann gegen den weiterhin auf seinen Vorwürfen bestehenden Musiker Anklage wegen Verleumdung und falscher Verdächtigung erhoben.

… der sich als ungerechtfertigt erweist

Erst im Herbst 2023 (!) gestand der 41-Jährige innerhalb dieses Verfahrens schließlich vor Gericht, die vergangenen zwei Jahre lang (!) gelogen zu haben. Er bat den zu Unrecht Beschuldigten um Verzeihung. Der Prozess endete dann mit einem Vergleich. Der Musiker erhielt eine Geldauflage zugunsten der Leipziger jüdischen Gemeinde sowie des Trägervereins des Hauses der Wannseekonferenz, um den Schaden, den er mit seinem Handeln gegenüber allen tatsächlich von Antisemitismus Betroffenen angerichtet hat, zumindest ansatzweise wiedergutzumachen. Darüber hinaus muss er ein Schmerzensgeld an den in seinem Ansehen und seiner Psyche zutiefst geschädigten Hotelmanager zahlen.

Reaktion auf den ungerechtfertigten Vorwurf des Antisemitismus in sozialen Medien

Nach dem Geständnis ließ das Echo im Netz nicht lange auf sich warten. Dass es überwiegend negativ ausfällt, verwundert nicht und ist angesichts der schieren Unglaublichkeit dieses Betragens einer Person des öffentlichen Lebens (auch wenn es sich hier nicht unbedingt um einen Weltstar handelt) auch durchaus nachvollziehbar und gerechtfertigt. Niemand sollte sich derart egozentrisch und rücksichtslos verhalten, schon gar nicht, wenn man in der Öffentlichkeit steht und so davon ausgehen muss, eine Massenwirkung zu erzielen. Dies ist auch der Grund, weshalb ich seinen Namen nicht nenne, denn ich möchte ihm keine weitere Plattform bieten, sondern lediglich die durch ihn leider erneut verschärfte Antisemitismus-Problematik thematisieren.

Verurteilung des Fehlverhaltens

So schreibt der Zentralrat der Juden in Deutschland, der bis zum Bekanntwerden des Geständnisses natürlich entschieden auf der Seite des vermeintlichen Opfers von Antisemitismus gestanden hatte, auf X, der Musiker habe mit seiner Lüge

[…] all denen, die tatsächlich von Antisemitismus betroffen sind, großen Schaden zugefügt. Neben der Öffentlichkeit hat er auch die jüdische Gemeinschaft belogen. Wir haben in unserer Gesellschaft ein Antisemitismus-Problem, viele sind gerade in der jetzigen aufgeheizten gesellschaftlichen Situation verunsichert und erleben Judenhass und Ablehnung. Es ist richtig, bei einem Antisemitismusvorwurf auf der Seite des Betroffenen zu stehen, ihm beizustehen und die Antisemitismuserfahrung zunächst nicht in Frage zu stellen. Umgekehrt darf so ein Vorwurf niemals grundlos erhoben werden. Und das ist hier leider passiert. Wir verurteilen das Verhalten […].

Zentralrat der Juden in Deutschland auf X, 28.11.2023, 12:17 Uhr.

Und auch Posts von Privatpersonen zeigen deren Unverständnis für das Handeln des 41-Jährigen und auch ihre Wut darüber. So äußert beispielsweise ein User auf X ebenfalls – und in seiner Ausdrucksweise bereits deutlich plakativer als der Zentralrat – die Befürchtung, durch die sinnlose und ’saudumme‘ Lüge werde tatsächlichen Opfern von Antisemitismus wohl künftig noch weniger Verständnis entgegengebracht werden als bisher. Und auf Facebook macht z. B. eine Person ihrem Ärger Luft, indem sie nochmals die Unschuld der fälschlicherweise vom Musiker des Antisemitismus Beschuldigten betont und dann schreibt, diese falsche Anschuldigung sei eine Relativierung des Leidens tatsächlich Betroffener.

Beispiele für Formen von Antisemitismus in sozialen Medien

Diese Befürchtungen hinsichtlich der Konsequenzen des offenkundig und unbestreitbar moralisch verwerflichen sowie verantwortungslosen Verhaltens des betreffenden Musikers waren nicht unbegründet, wie sich sogleich zeigen sollte. Denn abgesehen von diesen negativen, wenn auch emotional, so doch überwiegend sachlich bleibenden Reaktionen findet sich in den diesbezüglichen Kommentaren auf X und Facebook auch eine erschreckende Vielzahl antisemitischer Agitationen unterschiedlicher Art.

Diffamierende Verallgemeinerung

Darunter finden sich insbesondere auf Facebook häufig verallgemeinernde beleidigende Äußerungen über jüdische Menschen. Einerseits gibt es z. B. Aussagen, die darauf verweisen, dass dieser jüdische Mensch gelogen habe, sei doch nicht erstaunlich, denn alle jüdischen Menschen seien von Natur aus Lügner. Entsprechend wird auch der allgemeine Verdacht geäußert, Antisemitismusvorwürfe seien bestimmt häufig ungerechtfertigt und würden dann durch die öffentlichen Medien hochgespielt. Noch einen Schritt weiter geht die Verallgemeinerung, wenn eine Person grundsätzlich alle Angehörigen von Minderheiten, die angeben, rassistisch diskrimiert worden zu sein, der Lüge bezichtigt und ihnen unterstellt, sie wollten damit stets lediglich Aufmerksamkeit generieren.

Glaube an jüdische Raffgier und zionistische Weltverschwörung

An die verallgemeinernden Diffamierungen anschließend zeigen auch viele Posts die Überzeugung von einer genuin jüdischen Veranlagung zur Raffgier sowie der Existenz einer zionistischen Weltverschwörung. In einer Vielzahl der Kommentare äußern die Verfassenden sich entrüstet, dass der jüdische Angeklagte seine Strafzahlung letztlich an eine jüdische Gemeinde leisten muss – so bleibe es ‚in der Familie‘, meint eine Person. Zionismus und Judentum werden bei Aussagen in dieser Art häufig (fälschlicherweise!) gleichgesetzt. Damit einher geht außerdem mitunter eine gänzlich undifferenzierte israelfeindliche Haltung, die auch Bezüge zu aktuellen Ereignissen enthält.

Relativierung & Täter-Opfer-Umkehr

So spekuliert eine Person z. B., wann sich Netanjahu wohl für den 7. Oktober entschuldigen werde, und verweist auf die angebliche Vorliebe der ‚Zionisten‘ für ‚Propaganda‘ und Lügen. Bei dieser Äußerung handelt es sich um eine aktualisierte Form relativierender Täter-Opfer-Umkehr. Einerseits wird das durch die palästinensische Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel angerichtete Pogrom an der jüdischen Bevölkerung wird relativiert oder gar in Frage gestellt. Andererseits wird von Seiten der Opfer eine Entschuldigung (für die unmittelbare Reaktion auf das Pogrom oder für die angebliche Erfindung desselben?) erwartet?!

Daneben findet sich aber auch die altbekannte, klassisch auf die Shoah bezogene relativierende Täter-Opfer-Umkehr. User*innen werfen dem jüdischen Musiker vor, er habe sich den sogenannten ‚Schuldkult‘ zunutze gemacht. Damit habe er den Ruf des deutschen Volkes beschädigen oder durch die ‚Antisemitismuslügenkeule‘ (wohl eine Abwandlung der ‚Auschwitzkeule‘ Martin Walsers) eigene Vorteile erreichen wollen.

Ein User auf Facebook geht in seinem relativierenden Vergleich besonders weit und verliert dabei jegliche Logik aus dem Blick. Er schimpft, ebenso wie der jüdische Musiker im aktuellen Fall könnten die Deutschen die ‚Taten‘ der NS-Zeit (gemeint ist, wie der übrige Post erschließen lässt, die Ermordung von 5,6 bis 6,3 Millionen jüdischen Menschen in der Shoah) gestehen. Dann könnten sie sich dafür entschuldigen und Zahlungen an die deutsche Bevölkerung leisten, denn schließlich habe Hitlers Politik das Ansehen des deutschen Volkes beschädigt. Dass dieser Vergleich nicht nur hinkt, sondern mindestens zwei gebrochene Beine hat, ist offensichtlich. Allein der frappierende Unterschied in der Größenordnung und Tragweite der beiden Ereignisse verbietet die Gegenüberstellung per se.

Schlussfolgerungen zum Antisemitismus in sozialen Medien

Die untersuchten antisemitischen Äußerungen weisen vielfach Übereinstimmungen in unterschiedlicher Hinsicht auf. Diese lassen meist auf den Hintergrund bzw. die zugrunde liegenden Überzeugungen der Verfassenden schließen.

Verschleiernde Schreibweisen

Besonders auffällig ist, dass bei antisemitischen Posts scheinbar vielfach auf eine Schreibung geachtet wird, die es Suchalgorithmen sicherlich erschwert, die jeweilige Aussage auch als antisemitisch zu erkennen und so möglicherweise als gegen Richtlinien verstoßende Hatespeech zu blockieren (z. B. ‚Lügen liegt denen im Blut‘, ‚lügender J.‚ oder ‚Typisch für israeli‘). Dies legt die Vermutung nahe, dass die Verfassenden derartiger Kommentare bereits über umfangreiche Erfahrung im Posten diffamierender Äußerungen haben. Nicht unerwähnt lassen möchte ich aber, dass sich darauf erfreulicherweise auch nicht selten entschieden widersprechende Antworten anderer User*innen fanden.

Schlecht informiert

Vielfach zeigt sich, dass die antisemitisch argumentierenden Personen falsch oder schlecht informiert sind. So scheinen sich erstens die Wenigsten auch nur ein bisschen über den betreffenden Musiker informiert zu haben, den sie in ihren Kommentaren antisemitisch angreifen bzw. als Prototypen für jüdische Menschen nutzen. Bereits eine kurze Google-Suche ergibt : Es handelt sich um einen in München geborenen, nicht gläubigen, d. h. religiösen, sondern säkulären Juden. Zweitens ist auch Vielen nicht bekannt, dass die Begriffe ‚Israeli‘ und ‚Jude‘ nicht gleichbedeutend sind. Denn Israelis sind ALLE im Staat Israel lebenden Menschen, ungeachtet ihrer Religion. Ist es also ohnehin schon sinnlos, vom Handeln eines Einzelnen verallgemeinernd auf das einer ganzen Gruppe zu schließen, wird es hier noch abstruser. Wenn man das Handeln des 41-Jährigen als typisch für einen Israeli bezeichnet, überträgt man in vielen der Posts das Lügen einer deutsch-jüdischen Person auf alle in Israel lebenden Menschen.

Typische Begriffe

Die Verwendung von Begriffen wie ‚Schuldkult‘ deutet auf allgemein antisemitisch geprägte Ansichten der Verfassenden hin. Der Begriff impliziert einerseits die Überzeugung, es sei an der Zeit, mit der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit abzuschließen und diese zu vergessen. Andererseits nehmen die Menschen, die ihn verwenden, an, jüdische Menschen würden dies aus egoistischen Motiven heraus verhindern, um das Ansehen des deutschen Volkes gering zu halten und von dessen Schuld an der Shoah zu profitieren.

Fazit zum Antisemitismus in sozialen Medien

Die meisten der exemplarisch angeführten Kommentare können durchaus als charakteristisch für Antisemitismus in sozialen Medien bezeichnet werden. Besonders auffällig ist der zuletzt thematisierte NS-Vergleich, der an Absonderlichkeit wohl alle anderen antisemitischen Äußerungen übertrifft. Dennoch hielt ich es für wichtig auch diesen Kommentar zu erörtern. Denn er verdeutlicht, in welch abstruse Abwege sich das menschliche Hirn verirren kann, wenn es sich auf den Irrglauben an ein Feindbild oder einen Verschwörungsmythos versteift hat. Dass der Fall des deutsch-jüdischen Musikers, der sich unbestreitbar falsch verhalten hat, Antisemitismus in sozialen Medien wie auch allgemein zu fördern imstande sein würde, war zu befürchten. Nun ist es an denjenigen, die schon einmal die löbliche Zivilcourage besessen und sich offen für das vermeintliche Opfer eingesetzt haben, sich erneut offen auszusprechen, diesmal für die tatsächlichen Opfer – die künftig von Antisemitismus Betroffenen, denen nun womöglich noch mehr Misstrauen entgegenschlagen wird.

Quellen & Weiterführendes

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