Auch dieser Teil der Beitragsreihe über antisemitische Narrative soll als Hilfestellung dienen, diese zu entlarven. Denn trotz der erschreckenden Häufigkeit ihres Auftretens werden sie noch immer zu selten erkannt. Dies liegt vielfach an fehlendem (in der Regel historischen) Hintergrundwissen, mittels dessen sie deutlicher als solche erkennbar werden. Um ihrem häufigen Übersehen bzw. Überhören und insbesondere ihrem unbeabsichtigten Reproduzieren entgegenzuwirken, erkläre ich nachfolgend also wieder ihre Hintergründe bzw. historischen Grundlagen. So haben auch antisemitische Narrative zur Entmenschlichung von Jüdinnen und Juden Geschichte und finden sich ebenso in unserer Gegenwart.
Narrative zur Entmenschlichung durch Dämonisierung

Vorab: Es ist nicht grundsätzlich antisemitisch, sachliche, faire und reflektierte Kritik an bestimmten Zuständen oder Vorgehensweisen des Staates Israel zu äußern – vgl. hierzu demnächst auch meine Erläuterungen zu gegenwärtigen Formen von Antisemitismus im Beitrag „Antisemitismus in der europäischen Kultur – Geschichte und Gegenwart“. Im Protestgeschehen der jüngeren Zeit, insbesondere im Kontext der Entwicklungen im Nahostkonflikt der letzten Monate, tauchen jedoch zunehmend Plakate und mündliche Aussagen auf, die deutlich antisemitische Narrative zur Entmenschlichung (und auch anderer Art) enthalten (s. Abb. 1).
So wird Israel häufig unreflektiert und einseitig als die alleinig kriegstreibende Partei im gesamten komplexen Nahostkonflikt bewertet. Darüber hinaus wird dem Staat eine von Beginn an und grundsätzliche rassistische Struktur unterstellt. Beide Vorwürfe sind insbesondere in ihrer Pauschalitätunzutreffend. Das wird deutlich, sobald man sich eingehender und mit einem gewissen Objektivitätsanspruch mit der Geschichte des Konflikts zwischen Israel und Palästina bzw. seinen Nachbarstaaten insgesamt befasst.
Es würde jedoch den Rahmen diesen Beitrags überschreiten, bzgl. des Nahostkonflikts generell weiter ins Detail zu gehen. Deshalb findet ihr unten zwei Tipps für Literatur dazu. Hier gehe ich nachfolgend stets nur auf die Aspekte ein, die mit antisemitischen Narrativen zur Entmenschlichung zusammenhängen.
Apartheidstaat – Unrechtsstaat
In diesem Kontext wird der Staat Israel – fälschlicherweise (!) – als Kollektiv aller jüdischen Menschen definiert. Wird er also als Apartheidstaat oder (undifferenziert und verallgemeinert bzw. in ungerechtfertigtem Kontext) Unrechtsstaat bezeichnet, handelt es sich um antisemitische Narrative zur Entmenschlichung. Denn hierdurch werden jüdische Menschen dämonisiert. Ihnen wird grundsätzlich ein unrechtes, menschenverachtendes, gleichsam systematisch unmenschliches Denken und Handeln unterstellt.
Kindermörder Israel
Einen Schritt weiter noch geht diese Dämonisierung, wenn die Legende des Ritualmords aktualisiert wird. Diese kostete in Mittelalter und Früher Neuzeit viele jüdische Menschen das Leben. Vollkommen abwegigerweise – ist doch nach jüdischem Gesetz der Genuss jeglichen, also bereits tierischen Blutes verboten – wurde ihnen damals unterstellt, sie gebräuchten das Blut nichtjüdischer Kinder beim Backen ritueller Speisen.
Die Aktualisierung im Kontext des Nahostkonflikts geschieht in der pauschalisierenden Bezeichnung Israels und aller jüdischen Menschen als Kindermörder. Damit ist der – insbesondere seit Oktober 2023 in der weltweiten Öffentlichkeit zunehmend präsent werdende – Vorwurf gemeint, der israelische Staat ermorde palästinensiche Kinder. Der Feind Israel soll so als blutrünstiges Monster dargestellt werden. Unschuldige Opfer des Kriegsgeschehens werden hervorgehoben bzw. gar als die eigentlich von israelischer Seite beabsichtigten Ziele (Mord geschieht stets absichtsvoll!) dargestellt. (Dass dies eine vereinfacht einseitige Sicht ist, könnt ihr z. B. im verlinkten Artikel der Amadeu Antonio Stiftung nachlesen.)
Narrative zur Entmenschlichung durch Metaphern
Eine ebenso lange, mindestens bis ins Mittelalter zurückreichende Geschichte hat der metaphorische Wortgebrauch in Narrativen zur Entmenschlichung des jüdischen Volkes als Gesamtheit bzw. der ihm angehörigen Individuen. Und deutlicher als mit derartigen Formulierungen kann man wohl kaum zum Ausdruck bringen, dass man den betroffenen Personen ihr Menschsein abspricht.
Schwein, Schlange und Krake
Tiermetaphern sind eines der besten Beispiele dafür, dass Erscheinungsformen von Antisemitismus zugleich sehr alt und hochaktuell sind. So reicht die Tradition des Schweins als beleidigende Bezeichnung für jüdische Menschen bis weit ins Mittelalter zurück. Die bildlichen Zeugnisse davon finden sich aber noch heute bspw. an einer Vielzahl von Bauwerken (aufgelistet im verlinkten Wikipedia-Artikel). Und der hierfür gebräuchliche Ausdruck der Judensau ist allgemein bekannt – und wird auch in antisemitischen Kreisen durchaus noch genutzt.

Bereits in der Propaganda des NS-Regimes dann kamen die Tiermetaphern der andere Völker vergiftenden Schlange und des mit seinen vielen Armen – ebenfalls zum Schaden anderer Völker – die gesamte Welt kontrollierenden Kraken auf. Insbesondere die letztere Metapher taucht auch in der Gegenwart in zunehmender Häufigkeit in den Aussagen rechtsextremer oder antisemitisch ausgerichteter Personen und Medien auf. Sie wird aber mitunter auch unbedacht in anderem Kontext verwendet, ohne ihren antisemitischen Hintergrund angemessen zu berücksichtigen. Bei derartigen Äußerungen handelt es sich dann um strukturellen Antisemitismus. Dabei wird ein ursprünglich antisemitisches Bild in einem anderen Kontext verwendet. Die Problematik besteht v. a. darin, dass dies zur grundsätzlichen gesellschaftlichen Salonfähigkeit und Verharmlosung dieser Metaphern beiträgt.
Parasit, Bazillus, Virus und Krebsgeschwür
Auch das Postulieren eines engen Zusammenhangs zwischen jüdischen Menschen und Krankheiten hat eine lange Vorgeschichte. So wurde bereits während der mittelalterlichen Pestpandemie der jüdischen Bevölkerung vorgeworfen, die Seuche durch Vergiften von Brunnen verursacht zu haben. Ein entmenschlichendes Narrativ entstand in diesem Kontext jedoch ebenfalls erst durch die NS-Propaganda. Sie erklärte das jüdische Volk selbst zu einem für die Menschheit (zu der es dieser Auffassung zufolge nicht gehörte) tödlichen und deshalb zu vernichtenden Virus. Ähnliche metaphorische Codes sind bspw. Parasit, Bazillus oder Krebsgeschwür. Sie alle transportieren wie auch Virus die Botschaft, das jüdische Volk befalle die Menschheit und beute sie unter Inkaufnahme bzw. gar mit der Absicht von deren Schädigung zu ihrem eigenen Nutzen skrupellos aus oder könne sie gar vernichten.

In jedem Fall werden jüdische Menschen hier als Bedrohung dargestellt. Die Verwendung dieser Metaphern dient also dazu, nichtjüdische Menschen in Angst vor dem jüdischen Volk zu versetzen bzw. eine solche zu steigern. Dies wird gegenwärtig ebenfalls insbesondere im Kontext des Konflikts in Nahost genutzt. So wurde bspw. bereits 2020/21 der Staat Israel (erneut als Kollektiv aller jüdischen Menschen verstanden) wiederholt als Virus dargestellt: bildlich und in kombinierender Anspielung auf das gerade grassierende Coronavirus und das Jahr der Staatsgründung Israels mit dem Hashtag Covid1948.
Stellung beziehen gegen antisemitische Narrative zur Entmenschlichung
Die angesprochenen antisemitischen Narrative spielen in der Gegenwart einerseits im rechtsextremistischen Milleu eine Rolle. Dies umfasst natürlich alle eindeutig rechtsgerichteten Medien, z. B. das jüngst (Juli 2024) verbotene Compact-Magazin (mehr dazu im Link zum Artikel auf Belltower News). Außerdem begegnen antisemitische Narrative häufig im Protestgeschehen – und dies nicht nur im offen rechtsgerichteten. Denn in wachsendem Maße nehmen Rechte auch an anders fokussierten Demonstrationen teil bzw. übernehmen diese geradezu. Das wurde insbesondere im Kontext der Coronapandemie ersichtlich.
Doch die meisten Menschen kommen mit derartigen antisemitischen Narrativen wohl in Posts oder Kommentaren in sozialen Medien oder alltäglichen Gesprächssituationen in Berührung. In diesen Fällen ist es unerlässlich, zu reagieren. Gegen antisemitische Äußerungen sollte stets Stellung bezogen werden! Hat bereits jemand widersprochen, kann man diesen einfach unterstützen bzw. in sozialen Medien ein Like setzen. Doch auch wenn man selbst den ersten Widerspruch formulieren muss, gibt es durchaus Hilfestellungen – schaut euch dazu einmal die Links zu den Hilfen bei der Amadeu Antonio Stiftung an.
Andererseits begegnen die thematisierten Narrative v. a. im Kontext des Konflikts im Nahen Osten – ob im Protestgeschehen, am Arbeitsplatz, in der Kneipe oder am Küchentisch. Diesen in seiner Tragweite, historischen Bedingtheit und Komplexität vollauf zu durchschauen, ist schwierig, nicht zuletzt aufgrund der immer neuen Geschehnisse vor Ort. Insbesondere im zunehmend aufgeheizten Klima der Entwicklungen ist es deshalb mitunter eine Herausforderung, dazu eindeutig Stellung zu beziehen.
Aber auch dies sollte niemanden davon abhalten, sich in netten Unterhaltungen oder erbitterten Debatten bei Bedarf deutlich gegen (entmenschlichende) antisemitische Narrative auszusprechen! Das bringt keinesfalls zwangsläufig mit sich, im Kontext des Konflikts für das Vorgehen Israels bzw. gegen Palästinenser Stellung zu beziehen. Vielmehr ist es durchaus möglich, legitim und angemessen, den Nahostkonflikt nicht einseitig pro-israelisch, sondern differenziert zu beurteilen oder sich aufgrund der Komplexität gar eines Urteils zu enthalten, und zugleich antisemitische Narrative entschieden abzulehnen.
Quellen & Weiterführendes
- Weitere Beiträge der Reihe über antisemitische Narrative:
- Einen Überblick zu Geschichte und Gegenwart des Nahostkonflikts findet ihr in Carsten Schliwski: Nahostkonflikt. 100 Seiten. 2., aktual. und erw. Auflage 2023. Der Judaist, Islamwissenschaftler und Historiker ist sehr bemüht um möglichst objektive Darstellung und Beleuchtung der Entwicklung und Ereignisse von Seiten aller Beteiligten.
- Sehr interessant und aufschlussreich sind die Ausführungen eines in Israel aufgewachsenen, aber inzwischen seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Juden zum Nahostkonflikt in Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte. 2023. Der Publizist und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank geht sehr differenziert auf beide Konfliktparteien und v. a. die Auseinandersetzung mit dem Konflikt in Deutschland sowie in diesem Kontext u. a. auch auf Antisemitismus und Rassismus ein.
- Kurzer Artikel der Amadeu Antonio Stiftung zum Narrativ Kindermörder Israel
- Der Wikipedia-Artikel zur Tiermetapher Judensau enthält u. a. eine Liste bildlicher Zeugnisse dieser antisemitischen bzw. antijudaistischen Auswüchse seit dem Mittelalter.
- Artikel der Belltower News über das Verbot des rechtsradikalen Compact-Magazins im Juli 2024
- Hilfen zur Argumentation gegen Antisemitismus im Netz bei der Amadeu Antonio Stiftung, die sich auch in Offline-Situationen anwenden lassen
- Noch mehr Hilfe zum Umgang mit Antisemitismus im Netz bei der Amadeu Antonio Stiftung mit einem übersichtlichen PDF-Dokument, ebenso auch in Offline-Situationen brauchbar
- Hilfen zum Erkennen antisemitischer Narrative bei der Amadeu Antonio Stiftung
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