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Antisemitischer Abschluss im durchschnittlichen ‚Tatort‘

Quälen Sie hier gerade […] den unvergesslichen Shylock […]?

Kezele, 2023, 1:23:59–1:24:03.

Das fragt Professor Börne entrüstet den überführten Mörder im 2023 produzierten ‚Tatort – MagicMom‘ aus Münster. Den hatte ich mir vor einiger Zeit zur entspannenden Abendunterhaltung ausgesucht. Nach dem Ansehen wollte ich diese Frage dann am liebsten den Verantwortlichen stellen. Ich bin aber aus ganz anderen Gründen entrüstet als Börne…

Vorhersehbare Handlung

Bis auf die letzten zwei Minuten hätte nichts an diesem Film mich auch nur ansatzweise zu vertiefter Auseinandersetzung, wiederholtem Ansehen oder gar dem Verfassen dieses Artikels veranlasst: Die Krimihandlung entsprach zwar nicht meinem Geschmack, sie war mir zu vorhersehbar. Auch die Figuren agierten mir vielfach allzu albern… Aber all das ist Geschmackssache und mag anderen durchaus gefallen.

Thematisierung von Sensibilität

Positiv empfand ich immerhin das Eingehen auf Sensibilität und Gleichberechtigung. Das geschah am Beispiel der Themen Gendern, Frauenfeindlichkeit und Homosexualität. Und das ausgerechnet im Münster-‚Tatort‘ mit den eher nicht für Sensibilität und Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem bekannten Protagonisten Börne und Thiel. Das hebt die Thematik natürlich besonders hervor: Sie benehmen sich dahingehend immer wieder daneben und erhalten entsprechend stets den angemessenen Konter. Gute Idee und auch nicht schlecht umgesetzt!

Ein anderer Shylock…

Problematisch wird es aber in den letzten zwei Minuten. Der Täter ist des Mordes an seiner beruflich erfolgreichen Ehefrau, mit der er zwei Kinder hat, überführt. Er formuliert nun folgende Rechtfertigung seines Verbrechens:

Lachen sie nicht, wenn wir Väter sie kitzeln? Und hören sie nicht auf zu bluten, wenn wir Väter ihnen ein Pflaster aufs Knie kleben? Und fahren nicht auch wir Väter sie in die Notaufnahme, wenn sie sich versehentlich mit Allzweckreiniger vergiften?

Kezele, 2023, 1:23:41–1:23:54.

Diese ist deutlich – sicherlich bewusst – angelehnt an die Rechtfertigungsrede der literaturwissenschaftlich kontrovers interpretierten Figur des in einer überwiegend antisemitischen Umwelt lebenden jüdischen Händlers Shylock aus Shakespeares ‚Kaufmann von Venedig‘:

Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?

Shakespeare, S. 155.

… losgelöst vom Judentum

Das kritisiert Börne dann sinngemäß als Missbrauch des großen Dichters und seiner Figur. Es gehe dem Täter nicht um seine Kinder, sondern ausschließlich um sein Ego – und wie Thiel ergänzt das Geld seiner Frau.

Doch weshalb hier der Bezug ausgerechnet zu Shylock? Sicher, auch Shylock ist ein aus egoistischen und wirtschaftlichen Motiven handelnder Vater. Insofern passt der Vergleich. Doch er hinkt in anderer Hinsicht: Shylocks Rede bezieht sich nicht auf seine Vaterrolle, sondern auf seine Identität als Jude – und damit Angehörigem einer verfolgten und benachteiligten Minderheit!

Die Figur Shylock (wie hier versucht) von ihrem Judentum losgelöst vergleichend einzusetzen, scheint mir in der Praxis nahezu unmöglich und wenig sinnvoll. Denn sein Judentum wird als Konnotation meist wohl stets mitschwingen – ist er doch eine der bekanntesten jüdischen Figuren des europäischen Theaters.

‚Shylock‘ als antisemitische Beleidigung…

Darüber hinaus – und hiermit nähere ich mich dem Kern meiner Kritik – wird sein Name in der englischsprachigen Onlinewelt häufig sogar antisemitisch diffamierend als Beiname für jüdische Menschen verwendet. Im gleichen Kontext wird er als Verb für unverhältnismäßigen Geldverleih genutzt. Dadurch wird die antisemitische allgemeine Annahme einer Verbindung des jüdischen Volkes zu moralisch verwerflichen Finanzpraktiken im Besonderen auf in Finanz und Politik aktive jüdische Menschen übertragen.

Und so wird es auch im ‚Tatort‘ noch problematischer… Nachdem der Täter abgeführt ist, entsteht zunächst der Eindruck, Thiel wisse nicht, wovon die Rede ist – wie so oft, wenn Börne über Kulturelles spricht. Der Kommissar revidiert diesen dann jedoch – ebenfalls wie so oft. Durch seine nächste Äußerung (wohlgemerkt die letzte des Films) bringt er zum Ausdruck, dass er das betreffende Stück und die Figur Shylock sehr wohl kennt. Kulturell ist er also nicht so ungebildet wie Börne annimmt. So teilt er im Rausgehen (sinngemäß) mit, er kenne Shylock, denn ein Kumpel von ihm dieses Namens habe mit ihm geangelt und die Köder stets viel zu teuer verkauft.

… auch im ‚Tatort‘?!

Puh. Da musste ich ganz schön schlucken. Natürlich, Thiels Spruch vermittelt, dass ihm das Stück bekannt ist, indem er auf den gegen Shylock darin erhobenen (antisemitischen!) Wuchervorwurf anspielt. Aber er bleibt völlig ohne eine Reaktion, geschweige denn Kritik, als letzter Satz der Haupthandlung stehen! Der endet somit unkritisch mit der Anführung des diffamierenden Klischees vom Wucherjuden durch den beim Publikum beliebten und soeben erneut als nicht vollkommen ungebildet oder dumm herausgestellten Protagonisten! Noch dazu wendet dieser das historische Klischee auf eine Person unserer Gegenwart an. Shylock wird wieder einmal Wucher vorgeworfen und nun erhält er nicht einmal mehr Gelegenheit zur Rechtfertigung…

Thiel, mir als Zuschauerin bisher nie gänzlich unsympathisch, sondern allenfalls etwas eigen und in mancher Hinsicht altmodisch, diffamiert eine Person mittels antisemitischer Stereotype?! Das hat mich ziemlich schockiert. Und dass ausgerechnet in diesem Film, in dem explizit Sensibilität und Gleichberechtigung thematisiert werden, das Ende derart unsensibel gegenüber Jüdinnen und Juden ausfällt, empfinde ich als grob irritierend.

Antisemitismus an unerwarteter Stelle

Zwar ist es absolut in Ordnung, dass der Fokus hier auf andere Aspekte gelegt wurde. Entsprechend ist es nachvollziehbar, dass der Bereich Antisemitismus nicht zusätzlich thematisiert wurde, weil das den Rahmen gesprengt hätte.

Jedoch erscheint vor dem erörterten Hintergrund die Wahl ausgerechnet des Shylock als Bezugsfigur bereits problematisch, zumindest aber diskutabel. Die Anführung des Klischees vom Wucherjuden durch Thiel im letzten Satz aber ist antisemitisch und deshalb in höchstem Maße unangebracht – zumal für die Handlung auch gänzlich überflüssig.

Beides in Kombination ist schließlich von besorgniserregender Brisanz. Denn Filmsequenzen wie die hier beschriebene unterstützen die antisemitische Konnotation des Namens Shylock durch seine Verwendung als antisemitische Beleidigung.

Wir müssen wachsam für jegliche antisemitische Agitationen sein!

Offensichtlich ist weder den Verantwortlichen für die Filmproduktion noch dem Fernsehpublikum die Problematik aufgefallen. Man hat die antisemitische Äußerung des Protagonisten scheinbar als witzigen Spruch wahrgenommen.

Nur so kann ich mir erklären, dass der Film in dieser Form überhaupt produziert und ausgestrahlt wurde. Außerdem halte ich es auch für den Grund, weshalb sich in der nicht geringen Zahl von online zu findenden Rezensionen keine Auseinandersetzung mit dieser Problematik findet. Zumindest möchte ich das glauben. Denn das ist schlimm genug, die Alternative der bewussten Ignoranz wäre allzu erschreckend…

Lasst uns aufmerksam für Erscheinungsformen des Antisemitismus auch in solch vermeintlich kleinem Rahmen sein! Ist euch schon mal im Fernsehen oder in anderen Medien an so unerwarteter Stelle Antisemitismus begegnet? In welcher Form?

Meldestelle für antisemitische Vorfälle

Wenn euch im realen Alltag antisemitische Vorfälle begegnen – egal ob ihr selbst betroffen seid, eine Freundin, ein Verwandter oder eine euch unbekannte Person auf der Straße – könnt ihr diese übrigens unter report-antisemitism.de/report/ dem Bundesverband RIAS e. V. melden. Dort werden sie in einer Chronik erfasst und ausgewertet. Außerdem erhaltet ihr auf Wunsch auch Beratung. Nur die Angabe eurer Mailadresse ist erforderlich, die eures vollen Namens lediglich freiwillig.

Quellen & weiterführende Informationen

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