Zum Inhalt springen
Startseite » Blog » Jüdische Kultur in Deutschland: Die SchUM-Gemeinden

Jüdische Kultur in Deutschland: Die SchUM-Gemeinden

Das Innere der Frauenschul zu Worms

Heute ist Tag der jüdischen Kultur. Deshalb werfe ich in diesem Artikel einmal einen genaueren Blick auf ein besonders herausstechendes Zeugnis derselben: Die sogenannten SchUM-Gemeinden Speyer, Worms und Mainz! Die Abkürzung ‚SchUM‘ steht für die hebräischen Ortsnamen dieser drei Bischofsstädte. Für die jüdische Kultur des Mittelalters und darüber hinaus spielten und spielen sie eine besondere Rolle.

Abbildung 1: Blick vom Wormser Synagogenplatz durch die Hintere Judengasse zum sog. ‚Raschi-Haus‘, in dem sich das ‚Jüdische Museum Worms‘ befindet (eigene Aufnahme, 2023)

Jüdische Kultur am Rhein im Mittelalter

Abbildung 2: Der sog. Martin-Buber-Blick in Worms vom mittelalterlichen jüdischen Friedhof, dem ‚Heiligen Sand‘, hinüber zum Dom der Stadt (eigene Aufnahme, 2023)

Bereits im Frühmittelalter bildeten sie sich zum Mittelpunkt der aschkenasischen jüdischen Gelehrsamkeit heraus. Vor allem taten sie sich auf theologischem Gebiet hervor. Insbesondere entwickelten die Gelehrten dort jüdische Verordnungen und Vorschriften. Ebenso lag der Fokus aber auf rabbinischer Bibelexegese. Seltener entstand darüber hinaus liturgische Dichtung sowie philosophisches Schriftgut. Außerdem wurden Medizin und Pharmazie in griechisch-römischer Tradition der Antike betrieben. Auch in der christlichen Bevölkerung waren jüdische medizinische Behandlungen populär.

Die jüdische Kultur umfasste auch Bildung

Abbildung 3: Die mittelalterliche Wormser Frauenschul (eigene Aufnahme, 2023)

Innerhalb des Judentums war Bildung stets von zentraler Bedeutung. So waren bereits im Mittelalter männliche Juden meist schriftkundig und gelehrt. Und die jüdischen Hochschulen der SchUM-Städte waren weithin berühmt. Dort studierten junge Menschen nicht nur aus der Umgebung, sondern aus dem gesamten Heiligen Römischen Reich und darüber hinaus. Und – für das Mittelalter außergewöhnlich – auch jüdische Frauen konnten ab dem 13. Jahrhundert vielfach lesen. In den rheinischen Gemeinden erhielten sie meist einen eigenen Raum für die Gebetspraxis. Das Gebäude war an die Synagoge angeschlossen, damit sie dem Gottesdienst beiwohnen konnten. Die älteste derartige Frauenschul ist die von Worms (1212/13).

Abbildung 4: Das Innere der Wormser Frauenschul (eigene Aufnahme, 2023)

Mainz: Die älteste jüdische Gemeinde Deutschlands

Die frühesten Zeugnisse für die Mainzer jüdische Gemeinde stammen vom Beginn des 10. Jahrhunderts. Der berühmteste Schüler und spätere Leiter der dortigen Talmudschule war Gerschom ben Jehuda (960–1028/40), genannt ‚Leuchte des Exils‘ (hebr. ‚Meor ha-Gola‘). Er war die zentrale Autorität im deutschen und französischen Judentum seiner Zeit und der bedeutendste Talmudgelehrte des gesamten Abendlandes. So trug er entscheidend zum Ruhm der Mainzer Talmudschule bei.

Worms: Zentrum für jüdische Kultur und Wissenschaft

Ab der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts ist die Existenz einer jüdischen Gemeinde in Worms nachgewiesen. Diese entwickelte sich bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts zum Zentrum für jüdische Kultur und Wissenschaft in Europa. An der weithin bekannten Talmudhochschule der Stadt studierte u. a. Salomo ben Isaak aus dem französischen Troyes (1040/41–1105). Bei diesem handelt es sich um niemand anderen als Raschi (Rabi SCHelomo ben Isaak), der später nachhaltig für seine Kommentare zu Bibel und Talmud berühmt wurde. Letztere finden sich bis heute meist jeweils in den Ausgaben der beiden Werke mit abgedruckt. Raschis Werk ist damit von Bedeutung für Judentum und Christentum bis in die Gegenwart hinein.

Speyer: Mittelpunkt rabbinischer Belesenheit

Die jüdische Gemeinde von Speyer entstand offiziellen Belegen zufolge im Jahr 1084. Unter Historikern wird jedoch allgemein angenommen, dass bereits früher jüdische Menschen dort gelebt haben. Im Zuge der Kreuzzugspogrome 1096 wurden die jüdischen Gemeinden in Mainz und Worms vernichtet. Dieses Schicksal blieb der Speyerer Gemeinde aufgrund wirksamerer Schutzmaßnahmen des Bischofs erspart. So übernahm sie von nun an die kulturelle Leitungsposition innerhalb der deutsch-jüdischen Welt des Mittelalters.

Niedergang der SchUM-Gemeinden

Abbildung 5: Der ‚Heilige Sand‘ in Worms (eigene Aufnahme, 2023)

Mit den Pestpogromen der Jahre 1348 bis 1350 endete die Hochphase für die jüdische Kultur in den SchUM-Gemeinden. Alle drei wurden im Zuge der Pogrome vernichtet. Zwar kehrten schon bald danach Jüdinnen und Juden nach Speyer, Mainz und Worms zurück. Sie konnten aber nicht mehr die vorherige zentrale Stellung einnehmen und die Bedingungen verschlechterten sich zunehmend. So kam es in Speyer zunehmend zur Abwanderung der jüdischen Bevölkerung, wo im 16. Jahrhundert schließlich kaum mehr Jüdinnen und Juden lebten. Und aus Mainz wurden sie bereits 1471 vertrieben. Die Wormser jüdische Gemeinde hingegen blieb noch bis ins 17. Jahrhundert hinein Zentrum für jüdische Kultur.

Bedeutung von ‚SchUM‘ für die jüdische Kultur der Neuzeit

Insbesondere in Worms wurde das Gedächtnis der aschkenasischen kulturellen Blütezeit des Mittelalters wachgehalten. Diese brachte man innerhalb des deutschen Judentums auch noch nach der Emanzipation des 19. Jahrhunderts mit ‚SchUM‘ in Verbindung. Damit zusammenhängend diente die Vorstellung der SchUM-Städte damals in idealisierter Form als Zugang zur jahrhundertealten Historie der deutschen Judenheit und zur individuellen Positionierung als deutsche sowie jüdische Personen. Für die damalige Wissenschaft des Judentums spielte außerdem die Wiederentdeckung und Untersuchung der Denkmäler für die jüdische Kultur in den SchUM-Gemeinden eine entscheidende Rolle.

NS-Zeit: Jüdische Kultur unerwünscht

Abbildung 6: Stolpersteine für jüdische Opfer des Nationalsozialismus in Worms (eigene Aufnahme, 2023)

Die mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland ab 1933 zunehmende Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung führte zu einer Auswanderungswelle auch in Mainz, Worms und Speyer. Im Kontext der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 wurden dann auch jüdische Gemeinden am Rhein überfallen. Dabei wurden am 10. November die Synagogen aller drei SchUM-Städte niedergebrannt. Das wachsende Ausmaß der Verfolgung von Jüdinnen und Juden durch das NS-Regime und schließlich ab 1942 deren massenweise Deportation und Ermordung führte letztlich auch zur Vernichtung der SchUM-Gemeinden.

Judentum in Speyer, Worms und Mainz nach 1945

Nur vereinzelte Jüdinnen und Juden – Holocaust-Überlebende oder Zurückgekehrte – lebten nach 1945 in den SchUM-Städten. So war in Speyer eine Gemeindeneugründung erst Jahrzehnte später, nach jüdischer Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion Ende der 1990er-Jahre möglich. Ebenso war es in Worms. Hier wurde zwar bereits zwischen 1957 und 1961 Synagoge wiederaufgebaut. Ihre Verwaltung übernahm jedoch die Stadt Worms. Eigentümer ist die Gemeinde Mainz, der ebenso die seit Ende der 1990er-Jahre bestehende neue Wormser Gemeinde zugehörig ist. Bei ihrer Neugründung nach dem Holocaust zählte die Mainzer Gemeinde etwa 80 Mitglieder. Erst 2010 konnte sie die Neue Synagoge am Standort der 1938 Zerstörten eröffnen. Deren Fokus liegt nicht auf der negativen Geschichte der Zerstörung im NS-Regime, sondern auf der positiven Erinnerung an die Bedeutung der mittelalterlichen Mainzer Gemeinde bzw. des SchUM-Verbands für das Judentum und die jüdische Kultur. Heute zählt die Mainzer jüdische Gemeinde inklusive der Wormser Jüdinnen und Juden fast eineinhalbtausend Mitglieder.

Abbildung 7: Grabsteine des Gelehrten Rabbi Meir von Rothenburg (gest. 1291) und Alexander ben Salomon Wimpfens (gest. 1307) in Worms mit Steinchen und Zettelchen als gegenwärtige Ehrbezeugungen (eigene Aufnahme, 2023)

Jüdische Kultur als UNESCO-Welterbe

Die erhaltene mittelalterliche Architektur der SchUM-Gemeinden von Mainz, Worms und Speyer wurden 2021 offiziell zum UNESCO-Welterbe erklärt. Zu diesen SchUM-Stätten, die als Ursprung der aschkenasischen Lebenskultur gelten, gehören im Einzelnen die folgenden Kulturdenkmäler:

  • Mainz:
    Alter jüdischer Friedhof (Judensand)
  • Worms:
    Synagogenbezirk (Synagoge, Frauenschul, Mikwe, Raschi-Haus)
    Alter jüdischer Friedhof (Heiliger Sand)
  • Speyer:
    Judenhof (Synagoge, Frauenschul, Mikwe)

Worms habe ich diesen Sommer (2023, daher stammen auch die Fotos zu diesem Artikel) endlich mal besucht. Und obwohl Synagoge und Mikwe leider derzeit nicht zugänglich sind, waren bereits die Ausstellung im Raschi-Haus und vor allem der ‚Heilige Sand‘ die Anreise definitiv wert! Speyer und Mainz stehen natürlich weiter auf meiner Reiseliste für jüdische Kultur. Und auch Worms möchte ich erneut besuchen, wenn die Synagoge und die Mikwe wieder geöffnet sind.

Ich hoffe, diese kurzen Einblicke in die jüdische Kultur konnten euer Interesse wecken und machen neugierig auf mehr. Wünscht ihr euch Vertiefungen zu bestimmten Themen? Oder wart ihr schon in einer der Städte? Dann erzählt doch etwas über eure Erfahrungen in den Kommentaren! Ich freue mich auf jede Rückmeldung!

Quellen & weiterführende Informationen

  • Grübel, Monika: Judentum. Köln 2004.
  • Transier, Werner: Die SchUM-Gemeinden. Wiegen und Zentren des Judentums am Rhein im Mittelalter. In: Europas Juden im Mittelalter. Hrsg. v. Historischen Museum der Pfalz Speyer. Ostfilder-Ruit 2004, S. 59–67.
  • Website der SchUM-Städte
  • Website der UNESCO zu den SchUM-Stätten
  • Website Raschi-Haus
  • Wikipedia SchUM-Städte
  • Wikipedia SchUM-Stätten von Speyer, Worms und Mainz
  • Wikipedia Judenverfolgung 1096
  • Wikipedia Pestpogrome
  • Neues Lexikon des Judentums:
    Unter folgenden Stichwörtern finden sich meist knappe weiterführende Informationen zu Themenbereichen dieses Artikels:
    Gershom ben Jehuda
    Kreuzzüge
    Mainz
    Pestverfolgung
    Raschi (oder auch: Salomo ben Isaak)
    Rheinland
    Speyer
    Wissenschaft des Judentums
    Worms
  • Lexikon des Mittelalters:
    Die folgenden Artikel enthalten weitere, teils recht ausführliche Informationen zu folgenden in diesem Beitrag angesprochenen Aspekten:
    Judenfeindschaft (-haß, -verfolgung)
    Kreuzzüge
    Pest, A. Westen
    Ras(c)hi

Gefällt mir:


Entdecke mehr von Zeilen & Zeiten

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert