Da antisemitische Narrative im Alltag gegenwärtig häufig begegnen, aber nicht immer ohne (in der Regel historisches) Hintergrundwissen auf den ersten Blick als solche erkennbar sind, werden sie mitunter übersehen bzw. überhört oder teilweise sogar unabsichtlich reproduziert. Aus diesem Grund erläutere ich in dieser Beitragsreihe die am stärksten verbreiteten antisemitischen Narrative unserer Zeit und gehe auf deren Hintergründe bzw. ihre jeweilige historische Grundlage ein. Da das Narrativ über eine vermeintliche jüdische Weltverschwörung in vielfältigen Formen auftritt und -trat, widme ich diesem nachfolgend einen eigenen ausführlichen Beitrag, in dem ich versuche, die unterschiedlichen Begrifflichkeiten strukturiert darzulegen, denen antisemitisches Gedankengut dieses Einschlags zugrunde liegt.

Vermeintliche jüdische Weltverschwörung über eine neue Weltordnung
Großer Austausch – Great Reset – New World Order – Marionettenspieler – Strippenzieher
Das antisemitische Narrativ vom sogenannten Großen Austausch oder Great Reset bzw. einer New World Order basiert auf der Vorstellung einer jüdischen elitären Macht, die eine neue Weltordnung zu ihrem eigenen Vorteil und zum Schaden der derzeitigen Mehrheitsgesellschaften anstrebe. Sie lenke unbemerkt bereits im Hintergrund als Strippenzieher bzw. Marionettenspieler die gesamte Welt. Dieses Narrativ geht zurück auf die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion, einer um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstandenen Fälschung, mit der man bereits damals die Verschwörungsfantasie vom jüdischen Streben nach Weltherrschaft zu belegen suchte.
Narrative über eine jüdische Weltverschwörung im Finanzsektor
Hochfinanz – Finanzelite – Ostküste – Wall Street
Durch Verwendung der antisemitischen Narrative der jüdischen Hochfinanz oder Finanzelite soll jüdischen Menschen eine naturgegebene Verbindung zu Geld nachgesagt und der Kapitalismus zugleich negativ konnotiert als Erfindung des Judentums dargestellt werden. Historischer Vorläufer hierfür ist das in der NS-Zeit verbreitete Narrativ vom internationalen Finanzjudentum. Ebenso negativ können heute die Begriffe Ostküste und Wall Street gemeint sein, wenn sie in entsprechendem Kontext verwendet werden. Sie unterstellen dann, die US-amerikanische Börse stehe unter jüdischer Kontrolle. Historisch basieren diese antisemitischen Narrative auf dem seit dem Mittelalter bestehenden judenfeindlichen Stereotyp des jüdischen Geldverleihers bzw. Wucherjuden, der die Not anderer schamlos ausnutze.
Rothschild – Rockefeller – Soros – Zuckerberg – Gates
Ähnlich werden vielfach auch die Namen von – teilweise sogar nur angeblich (z. B. im Fall Gates) – jüdischen und finanziell einflussreichen Personen wie Rothschild oder Soros als Code für die Unterstellung der Herrschaft ‚des Judentums‘ über das weltweite Finanzwesen und damit dessen Macht zum Lenken und Regieren der gesamten Weltgeschicke verwendet. Hierbei wird in der Regel (mindestens implizit) mit unterstellt, der Reichtum sei auf unehrliche Weise erlangt worden. Erneut fungieren in diesem Narrativ ‚die Juden‘ als im Verborgenen agierende Drahtzieher einer weltweiten Verschwörung. Diese muss als simple Erklärung für hochkomplexe und in der Regel unangenehme soziale Umstände herhalten. Historische Vorbilder finden sich sowohl in der NS-Propaganda mit dem Film „Die Rothschilds“ als auch in der bereits genannten schon im Mittelalter auftretenden Behauptung der naurgemäßen Verbindung zwischen ‚den Juden‘ und dem Finanz- bzw. Zinsgeschäft.
Das Narrativ über eine allmächtige jüdische Weltverschwörung im Hintergrund
Zionisten – Zionismus – ZOG
In der Realität handelt es sich beim Zionismus um eine innerjüdische politische Strömung zur Bildung eines jüdischen Nationalstaates, in ihren Anfängen progressiv und nicht zwingend auf Israel fokussiert. Sie entstand als Reaktion auf den im Verlauf der jüdischen Exilsgeschichte immer wieder aufflammenden Antisemitismus. Heute richtet sie sich natürlicherweise auf den Staat Israel und und dessen Existenzrecht. Werden nun die Begriffe Zionist oder Zionismus in antisemitischer Absicht verwendet, werden sie dabei in der Regel einerseits fälschlicherweise mit ‚jüdischer Mensch‘ bzw. ‚Judentum‘ gleichgesetzt. Andererseits wollen die Sprechenden bzw. Schreibenden mit diesem Narrativ in der Regel ebenso auf eine angebliche jüdische Weltverschwörung und ein internationales Judentum als weltweit agierende Macht anspielen. Letzteres kommt noch deutlicher zum Ausdruck, wenn der Terminus ZOG (Zionist Occupied Government) zur Diffamierung unliebsamer Regierungen verwendet wird.
Lügenpresse
Auch Angriffe auf die öffentlichen Medien mit der diffamierenden Bezeichnung selbiger als Lügenpresse zielen meist in die gleiche Richtung. Denn damit ist in der Regel implizit das antisemitische Narrativ einer jüdischen Verschwörung gemeint, die insgeheim aus dem Hintergrund die Medien lenke. Hierdurch wird deren Unabhängigkeit bestritten.
Eine lange Tradition weist auch dieses Narrativ auf. Es stammt bereits aus dem 19. Jahrhundert. Damals behauptete der antijüdisch eingestellte Historiker Heinrich von Treitschke ebenfalls stigmatisierend, die deutsche Presse werde von ‚den Juden‘ gelenkt. Deshalb, so seine Ansicht, war das durch sie Vermittelte für das deutsche Volk nicht mehr glaubhaft. Zugleich würdigte er zwar die Leistungen jüdischer Größen im Journalismus seiner Zeit durchaus positiv. An der antijüdischen Stoßrichtung seiner Ausführungen änderte dies jedoch nichts. Übrigens bestand er, trotz seiner wiederholten antisemitischen Agitation, stets darauf, er sei kein Antisemit. Kommt einem latent bekannt vor und erinnert an Äußerungen, die beginnen mit ‚Ich habe ja nichts gegen Juden, aber…‘, oder?!
Giftspritze
Eine weitere Form der Unterstellung, es gebe eine jüdische Weltverschwörung, die als geheime Macht im Hintergrund der Menschheit Übles antun wolle, ergab sich im Kontext der Corona-Pandemie bzw. der Corona-Demos. Sie setzte ein mit Beginn der Impfungen gegen Covid-19, die das Ziel verfolgten, insbesondere den sehr stark gefährdeten Gruppen der Bevölkerung besseren Schutz vor den Auswirkungen des Pandemiegeschehens zu ermöglichen. Viele der sich öffentlich gegen diese Impfungen Einsetzenden postulierten nicht nur, diese seien schädliche oder gefährliche Giftspritzen, sondern stellten zugleich die Behauptung auf, ‚dieJuden‘ hätten die Impfkampagne initiert, um die übrige Menschheit zu vergiften.
Auch hierfür existieren historische Vorläufer. Unterstellungen von negativen Zusammenhängen zwischen Impfungen und ‚den Juden‘ verbreitete bereits die Propaganda des NS-Staats.
Gegen das Narrativ einer jüdischen Weltverschwörung argumentieren

Keinesfalls sollten Aussagen, die auf Verschwörungsglauben schließen lassen oder diesen direkt zum Ausdruck bringen, lediglich ignoriert und ohne Kommentar links liegen gelassen oder gar belächelt werden. Gegen solche Äußerungen des Verschwörungsglaubens bzw. Manifestationen von Verschwörungserzählungen zu argumentieren, ist stets der Mühe wert – jedoch auch keine ganz einfache Aufgabe. Denn es gilt dabei, einige Aspekte zu berücksichtigen, da das den konkreten Aussagen zugrunde liegende Interesse unterschiedlicher Art sein kann. So reicht das Spektrum der sich Äußernden von überzeugten Verschwörungsgläubigen, die gar ihre Ablehnung demokatischer Strukturen zum Ausdruck bringen wollen, über unbewusst alte Stereotype Reproduzierende oder in der Jugendkultur vorherrschende Rhetorik Verwendende bis hin zu das Ziel bloßer Provokation Verfolgende. Entsprechend unterschiedlich fallen zugegebenermaßen auch die Erfolge der einzelnen Gespräche aus.
Die Sachebene verlassen
In Gesprächen mit diesen Menschen ist es aus verschiedenen Gründen nicht sinnvoll, ausschließlich sachlich, also auf der faktischen Ebene, zu bleiben und nur Fragen zu stellen wie ‚Woder weißt du das?‘ oder ‚Wer hat dir denn das erzählt?‘ Es bringt in der Regel hier nicht viel, einfach darauf zu bestehen, die eigenen Argumente seien die richtigen und besseren. Einerseits lassen sich auf diese Weise Verschwörungsgläubige meist nicht überzeugen. Denn sie bewerten die so vorgebrachten Argumente – v. a. wenn diese aus einer wissenschaftlichen Quelle oder von einer öffentlichen Instanz stammen – vielfach als Teil der Verschwörung. So halten sie auch Widersprüche in der Verschwörungserzählung, die man ihnen für Augen führt, lediglich für eine weitere Finte, mittels derer Unwissende von geheimen Mächten ausgetrickst werden sollen. Andererseits sollte man auch nicht unterschätzen, wie schwierig es sein kann, spontan neu vorgebrachte Argumente Verschwörungsgläubiger angemessen zu beurteilen und ggf. schlüssig zu widerlegen.
Auf der Beziehungsebene die Motivation ergründen
Entsprechend ist es zielführender, das Gespräch auf der Beziehungsebene zu führen, indem man versucht, die Beweggründe des Gegenübers zu erfahren. Man sollte hierzu eher Fragen stellen wie ‚Weshalb glaubst du diese Dinge?‘ Vor allem sollte man aber der anderen Person von Beginn an keinesfalls den Eindruck vermitteln, man wolle sie bloßstellen oder ihre Überzeugungen als falsch offenbaren. Hierdurch würde sie sich in die Defensive gedrängt fühlen und wahrscheinlich umso stärker auf der geäußerten Ansicht beharren. Stattdessen sollte sie aber im Gesprächsverlauf stets die Chance erhalten, selbst zu einer zunehmenden Distanzierung von ihrer verschwörungsideologischen Aussage zu gelangen. Dafür ist es unerlässlich, ihr von Beginn an durch offene Gesprächsführung (z. B. Einstiege wie „Was du da gerade sagst, finde ich problematisch, lass uns doch mal in Ruhe darüber reden“) zu vermitteln, dass sie und ihre Beweggründe und Erfahrungen ernstgenommen und respektiert werden. Nur so besteht die Chance, sie zu erreichen.
Quellen & Weiterführendes
- Hilfen zur Argumentation gegen Antisemitismus im Netz bei der Amadeu Antonio Stiftung
- Hilfen zum Erkennen antisemitischer Narrative bei der Amadeu Antonio Stiftung
- Beitrag über Typische antisemitische Narrative (Geschichte antisemitischer Narrative I)
Entdecke mehr von Zeilen & Zeiten
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.