Oft habe ich Schwierigkeiten, wirklich fokussiert, und das kontinuierlich, an meinen Schreibprojekten zu arbeiten. An manchen Tagen bin ich schwerstens motiviert und schaffe viel. An anderen will ich unbedingt weiterschreiben, kann mich aber kaum aufraffen. Dann stört noch der Alltag: Haushalt, Lektoratsarbeit, Familie, Freunde, Haustiere, Freizeitinteressen, z. B. Musik oder Lesen, aber auch das Bedürfnis, mal vor dem Fernseher abzuschalten. Auch plane ich oft bis in den Abend für Schreibprojekte. Dann (zugegeben nicht nur dann) bleibe ich nachts lange wach, lese oder sehe fern, um vor dem Schlafen noch zur Ruhe zu kommen. Dadurch wiederum stehe ich morgens später auf (wobei ich ohnehin eher nachtaktiv bin). Vormittags brauche ich einige Anlaufzeit (in die sich erneut der Haushalt mogelt), bis ich frühestens mittags mit dem Schreiben beginne – wenn nicht wieder andere Arbeit dazwischenkommt. Doch bei ‚großen Schriftstellern‘ ist das bestimmt anders. Zum Beispiel der Schreiballtag bei Thomas Mann sah sicher nicht so aus. Dachte ich immer.
War der Schreiballtag bei Thomas Mann diszipliniert oder unstrukturiert?
Thomas Mann hatte sicher mehr Disziplin, davon war ich überzeugt. Wie hätte er sonst beispielsweise ein Werk vom Umfang der „Buddenbrooks“ fertigbekommen?! Doch dann las ich einen Artikel von Felix Lindner auf ZEIT ONLINE. Darin beschreibt er Mann auf Basis der Auswertung seiner Tagebücher als produktiv „vor dem Hintergrund der ständigen Gefahr des Müßiggangs und des Versagens“ . Bitte was?! Das kam mir doch bekannt vor?! Meine Neugier war geweckt. Kannte ich doch bisher nur die ebenfalls im Artikel genannte „Legende“ über den routinierten Schreiballtag bei Thomas Mann und den Autor als „mustergültiges Beispiel regelhafter Kreativität“. Doch Lindner zufolge gab es für Mann zwar die Utopie eines perfekten Tagesablaufs. Er habe sich jedoch meist in einem „Kampf um die selbst gesetzte Idealordnung“ befunden. Kam mir wirklich sehr bekannt vor. Und wollte ich natürlich überprüfen! Also ergründete ich den Schreiballtag bei Thomas Mann aus erster Hand, indem ich selbst einen genaueren Blick in seine Tagebücher warf. Nachfolgend stelle ich euch die Ergebnisse anhand ausgewählter Zitate exemplarisch vor.

Störungen und Ablenkungen
Seine Tagebücher zeigen: Auch Thomas Mann war – trotz des Privilegs, Berufsschriftsteller zu sein – vor ganz alltäglichen Ablenkungen vom Schreiben nicht gefeit. Ob Spaziergänge (mit oder ohne Hund oder menschliche Begleitung), Besuche zum Tee von oder bei Bekannten oder Verwandten, allgemeine familiäre Verpflichtungen und tagespolitische Sorgen oder auch (seltener) Besorgungen in der Stadt – all das ließ auch ihm tagtäglich nur ein begrenztes Zeitfenster für die Arbeit an seinen Buchprojekten. Und es kam sogar auch immer wieder vor, dass er ganze Tage überhaupt nicht daran arbeitete.
Es wird mir wieder leid sein, mich zu unterbrechen, was […] bald geschehen muss […].
Mann, Tagebücher 1937-1939, S. 155.
Stattdessen betrieb er dann ausschließlich briefliche Korrespondenz, las verschiedene Texte anderer Korrektur, beschäftigte sich mit der Tagespolitik u. Ä. Und auch Öffentlichkeitsarbeit und Marketing in eigener Sache spielten im Schreiballtag bei Thomas Mann eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Darüber hinaus mangelte es dem lesebegeisterten Schriftsteller häufig auch an Disziplin hinsichtlich seiner Schlafenszeit: Er blieb nicht selten am Abend noch lange in eine Lektüre vertieft auf.
[G]estern Nacht zu lange gelesen.
Mann, Tagebücher 1937-1939, S. 330.
Mitunter dadurch bedingt war der Schreiballtag bei Thomas Mann nicht frei von hin und wieder verspätetem Aufstehen am Morgen. Und häufig legte sich der Autor im Tagesverlauf, meist nachmittags, nochmals zur Ruhe.
Schlief nachmittags lange und nahm erst um 6 Uhr den Thee.
Mann, Tagebücher 1935-1936, S. 100.
Schreibblockaden und Müdigkeit
Gelegentlich fühlte sich Mann – auch das geht aus den Tagebüchern hervor – nach einem besonders schreibreichen Tag geradezu „[a]bgemüdet“ (Mann, Tagebücher 1940-1943, S. 321). Und nicht selten musste er sich förmlich selbst zum Schreiben zwingen.
Schrieb […] energisch, wenn auch widerwillig […].
Mann, Tagebücher 1937-1939, S. 23.
Dabei gelang es ihm nicht immer, allzu viel Neues zu Papier zu bringen.
Schrieb nur eine Handbreit weiter […].
Mann, Tagebücher 1935-1936, S. 44.
Außerdem blieb auch er nicht verschont von blockierenden inhaltlichen Schreibproblemen.
Schwierigkeiten, aufhaltend, mit dem Schluß des Kapitels […].
Mann, Tagebücher 1935-1936, S. 184.
Und schließlich kam es auch vor, dass die Schreibsorgen in einem Buchprojekt allzu belastend wurden. Dann wusste sich der Schriftsteller nur dadurch zu helfen, dass er die Arbeit an dem betreffenden Werk zunächst gänzlich ruhen ließ.
Unterbrechung in dem Roman […]. Ein eigentümliches, erregendes, auch viel Sorge und Zweifel erregendes Buch.
Mann, Tagebücher 1944-1946, S. 93.
Fleiss und Eifer bis ins hohe Alter
Doch in Thomas Manns Tagebüchern finden sich ebenso nicht wenige Zeugnisse für ein besonders frühes Erwachen am Morgen und fokussiertes Arbeiten an Buchprojekten.
Stand heute […] vor 8 Uhr auf und setzte die Arbeit am Roman bis zu einem bestimmten Ziele fort.
Mann, Tagebücher 1935-1936, S. 15.
Körperliche Beschwerden wie insbesondere Schlafprobleme scheinen ihn in jüngeren Jahren eher wenig in seiner schriftstellerischen Tätigkeit beeinträchtigt zu haben.
Arbeitete nach wenig guter Nacht sogar angeregter.
Mann, Tagebücher 1935-1936, S. 69.
In späteren Jahren wurde dann zwar auch der Schreiballtag bei Thomas Mann durch Ermüdungserscheinungen aus gesundheitlichen Gründen erschwert. So ließ generell seine Konzentrations- und Leistungsfähigkeit altersbedingt nach – sehr zu seinem Leidwesen.
Unzufriedenheit mit meinen Geisteskräften.
Mann, Tagebücher 1951-1952, S. 140.
Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, weiterhin vielfach trotz Erschöpfung und schlechter Nachtruhe an seinen Buchprojekten zu arbeiten.
Nachts oft erwacht. Angegriffen und müde. […] Arbeit am Kapitel.
Mann, Tagebücher 1949-1950, S. 183.
Darüber hinaus erkrankte er zwischenzeitlich sogar ernsthaft und musste selbst erkennen, dass das Weiterarbeiten unter diesen Umständen weder seiner Gesundheit noch seinem Romanprojekt zuträglich gewesen war: Die gesundheitlichen Schwierigkeiten, die prekäre politische Lage in seiner fernen deutschen Heimat sowie die Unzufriedenheit mit dem literarischen Projekt hatten gemeinsam das Erstere und das Letztere weiter verschlechtert, so sein Schluss.
Unter wie schlechten Bedingungen habe ich gearbeitet! Andererseits ist sicher der schreckliche Roman zusammen mit den deutschen Ärgernissen an der Erkrankung schuld.
Mann, Tagebücher 1944-1946, S. 315.
Allerdings blieb er bei – auch recht starken – Erkältungserkrankungen selbst in hohem Alter fleißig bis zur Unvernunft und ließ sich nicht von der Arbeit an seinem aktuellen Schreibprojekt abhalten.
Husten und Schnupfen. […] Am Manuskript. […] Esse mühsam […]. Brauche viele Taschentücher.
Mann, Tagebücher 1953-1955, S. 183.
Und selbst im Juni 1955 und somit kurz vor seinem Tod im August desselben Jahres plante der zu diesem Zeitpunkt Achtzigjährige noch emsig an neuen Schreibprojekten (vgl. Mann, Tagebücher 1953-1955, S. 349).
Fazit: Der Schreiballtag bei Thomas Mann war zauberhaft unregelmäßig
Zusammenfassend lässt sich der Schreiballtag bei Thomas Mann weder als absolut rigide durchstrukturiert noch als völlig chaotisch beschreiben. Der Literaturnobelpreisträger hatte letztlich in seinem kreativen Schaffensprozess mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie ich. Phasenweise hat er sehr viel an seinen literarischen Projekten geschrieben – das jedoch auch mit wechselndem Ertrag. Dann hat er sich wieder mehr anderen Dingen wie Reden, Korrektoraten, brieflicher Korrespondenz u. Ä. gewidmet. Teils gestaltete sich sein Schreiballtag sogar von Tag zu Tag unterschiedlich.
Das zeigt: Kreativität lässt sich nicht in ein zeitliches Korsett zwängen und auf diese Weise vorausplanen. Auch Thomas Mann ist das nicht gelungen. Aber sein Beispiel zeigt auch, dass es möglich ist und sinnvoll sein kann, eine ideale Tagestruktur gleichsam als eine Art Utopie vor Augen zu haben. Wichtig scheint mir dabei jedoch, die Unerreichbarkeit dieser Utopie zu akzeptieren. Sich die Flexibilität im Schreiballtag zu bewahren, um den oft plötzlichen kreativen Eingebungen, aber auch dem gelegentlichen Ausbleiben von Ideen Rechnung zu tragen. Ganz bewusst keinen „Kampf um die selbst gesetzte Idealordnung“ (Lindner) auszutragen. Nur so gelingt es, am Ende des Tages kein Gefühl des Scheiterns zu verspüren, sondern zufrieden zu sein mit dem eigenen Fortschritt.
Und so habe auch ich jetzt wirklich die ganz realistische Hoffnung, dass ich mein Romanprojekt eines Tages abschließen werde. Das ist doch beruhigend, oder was meint ihr? Und gerade als noch unbekanntere Autorin fühle ich mich in der guten Gesellschaft eines der ganz Großen schon ziemlich ermutigt. Geht es euch jetzt ähnlich? Dann schreibt mir (hier, per Mail oder auf Social Media) und lasst uns darüber austauschen!
Quellen & Weiterführendes
- Lindner, Felix: Thomas Mann. Der Autor und sein Homeoffice. In: ZEIT ONLINE. 21.01.2021.
- Thomas Mann: Tagebücher 1935-1936. Hrsg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 2003.
- Thomas Mann: Tagebücher 1937-1939. Hrsg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 2003.
- Thomas Mann: Tagebücher 1944-1946. Hrsg. v. Inge Jens. Frankfurt a. M. 2003.
- Thomas Mann: Tagebücher 1949-1950. Hrsg. v. Inge Jens. Frankfurt a. M. 2003.
- Thomas Mann: Tagebücher 1951-1952. Hrsg. v. Inge Jens. Frankfurt a. M. 2003.
- Thomas Mann: Tagebücher 1953-1955. Hrsg. v. Inge Jens. Frankfurt a. M. 2003.
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