In diesem Beitrag berichte ich euch von der Entstehung und Entwicklung meiner Romanfiguren. Denn wie ihr ja inzwischen wisst schreibe ich zwar schon lange, aber derzeit an meinem ersten umfangreichen Romanmanuskript. Das bringt natürlich mit sich, dass ich viele Erfahrungen zum ersten Mal mache, die möglicherweise für gestandene Mitglieder der schreibenden Zunft mittlerweile ganz alltäglich sind. Deshalb lasse ich euch hier im Blog zum Autorinnenleben u. a. an diesen Erfahrungen teilhaben. Denn vielleicht ist das ja für ‚alte Hasen‘ wie ‚junge Hühner‘ auf dem Gebiet des Romanschreibens mindestens unterhaltsam, im Idealfall sogar hilfreich.

Kreation von Romanfiguren durch Schriftstellende
Bei meinem aktuellen Romanprojekt – einem Fantasyroman (Zielgruppe: Jugendliche bis Young Adult) – sind Figuren und Plot mehr oder weniger gleichzeitig entstanden. Und es ist für mich bisher auch schwer vorstellbar, anders vorzugehen. Denn bereits in meiner ersten Plotidee waren zwangsläufig – allerdings zugegebenermaßen noch sehr rudimentäre – Figuren enthalten. Deren erste genauere Ausformungen – parallel zum Erstellen von Plot bzw. Mikroplot (wie im Beitrag zum Plotten beschrieben) – bildeten dann die tatsächlichen Grundideen der einzelnen Charaktere.
Von den Grundideen…
Jede Grundidee für eine Romanfigur basierte meist auf einer interessanten Charaktereigenschaft bzw. noch häufiger auf der Kombination mehrerer solcher Eigenschaften. Dabei habe ich den unmittelbaren Anreiz vielfach aus meinem direkten Umfeld entnommen, z. B. von Verwandten, Bekannten, Freunden, aber ebenso aus TV oder Literatur, und z. T. auch von gänzlich Fremden, die mir auf der Straße begegneten. Letztere liefern zunächst v. a. Impulse für äußere Merkmale, doch in ihrem Verhalten können auch sie eine Motivation für Charakterideen bieten. Darüber hinaus entstammen viele der inneren Merkmale meiner Figuren auch ganz simpel meiner eigenen Persönlichkeit.

Ich habe dann all die Wünsche, Stärken, Schwächen und
übrigen charakterlichen Eigenschaften, die mir die
unterschiedlichen Anreizquellen boten, in übersteigerter,
abgeschwächter und/oder modifizierter Form
auf verschiedene Figuren verteilt – und hinzu
kam natürlich eine gehörige Portion Fantasie.
Dadurch entstanden völlig neue Charaktere, die mit den zugrundeliegenden Anreizquellen, den realen Menschen, jeweils nur einzelne Charakterzüge und/oder äußere Merkmale gemein haben.
… über die Visualisierung…
Um sich den Romanfiguren weiter anzunähern, schien es mir hilfreich, in einem Zwischenschritt eine genauere optische Vorstellung von ihnen zu entwickeln. Für alle Hauptfiguren habe ich deshalb Bilder im Internet gesucht, die meiner Vorstellung von ihnen, d. h. dem Bild, das mir vor meinem geistigen Auge vorschwebte, nahe kamen.

Eine schier unerschöpfliche Quelle hierfür ist z. B. Pinterest. Ich persönlich fand es an diesem Punkt der Figurenkreation angenehm, dort einige wenige Stichpunkte zum Äußeren einer Figur einzugeben, mich dann von den gefundenen Bildern inspirieren zu lassen und von einem zum nächsten Bild zu klicken, bis ich ein bestmöglich Passendes gefunden hatte.
Natürlich besteht aber alternativ auch die Möglichkeit, mittels KI ein exakt den eigenen Vorstellungen entsprechendes Bild kreieren zu lassen – sofern man schon exakte Vorstellungen vor Augen hat. Sind die optischen Vorstellungen aber wie bei mir zunächst noch recht verschwommen und grob, ist die Bildersuche eine geeignetere Option.
… zum Schreiben
Ausgehend erneut von den charakterlichen Grundideen habe ich dann detailliertere Charakterbögen erstellt. Auf diesen habe ich folgende Punkte gesammelt:
- Allgemeines wie Name, Alter, Wohnort, Volk, Beruf…
- Details zur äußeren Erscheinung, z. B. Augenfarbe, Haarfarbe…
- Details zur Persönlichkeit, u. a. Fähigkeiten & Fertigkeiten, Ängste, Ziele, Wünsche, Stärken, Schwächen, Charakterfehler, Schrullen…
Als ich diese Charakterbögen für alle Hauptfiguren
sowie die wichtigsten Nebenfiguren und natürlich
ebenso den Plot bzw. Mikroplot fertiggestellt hatte,
war es endlich soweit, ich konnte mit dem Schreiben beginnen.

Dass damit die kreierten Romanfiguren nicht charakterlich zum Stillstand kommen würden, war mir an diesem Punkt zwar durchaus klar – und willkommen. Ich wusste, dass jetzt ihre Entwicklung einsetzen würde, da sie ja im Handlungsverlauf Dinge erleben und sich dadurch verändern würden. Ich wusste auch, dass sich dies trotz vorangegangenem Plotten und Mikroplotten nicht vollkommen planen lässt, sondern die Charakterentwicklung auch unvorhergesehene Züge annehmen kann. Theoretisch. Dass es praktisch so schnell passieren würde, hat mich dann aber doch überrascht.
Autonome Entwicklung von Romanfiguren
Alles war vorbereitet, die Figuren waren bereit, in ihr Abenteuer zu starten, und ich begann mit dem Schreiben des ersten Kapitels aus Perspektive der ersten Hauptfigur. Mit dieser hatte ich mich zuvor am längsten auseinandergesetzt. Sie war die erste Figur, die ich kreiert hatte. Und sie verhielt sich nun auch weitgehend wie erwartet, auch als der Plot naturgemäß detaillierter wurde als bei der Planung und Aspekte hinzukamen, die ich zuvor entsprechend noch nicht hatte bedenken können.

Voller Tatendrang begann ich das zweite Kapitel aus Perspektive der zweiten Hauptfigur. Diese hatte ich allerdings erst etwas später im Verlauf der Plotentwicklung zur Hauptfigur ‚berufen‘. Und offenbar hatte das dazu geführt, dass ich sie nun doch noch nicht ganz so gut kannte – denn sie überraschte mich damit, dass sie sich einfach unerwartet Hals über Kopf in eine gegnerische Figur verliebte.
Ja, ich hatte theoretisch gewusst, dass Romanfiguren
so etwas hin und wieder ganz autonom machen.
Aber damit gerechnet hatte ich so früh in meinem Erstlingswerk noch nicht.

Also stellte sich mir als Erstautorin unerweartet früh die Frage, wie ich auf die autonom entstandenen Gefühle meiner Protagonistin reagieren sollte.
Autonomie der Romanfiguren: (K)ein Problem?
Ist es schlimm, wenn Romanfiguren ihre eigenen Entscheidungen treffen und sich anders entwickeln als geplant? Ich denke inzwischen, letztlich lässt sich das nur sehr individuell beantworten.
Ich habe mich über die spontane emotionale Reaktion
einer meiner Figuren auf eine andere gefreut.
Denn für mich war es ein Zeichen, dass ihre Charaktere nicht unrealistisch ‚glatt‘ geraten sind, sondern genau so facettenreich, wie von mir beabsichtigt. Nur so lässt es sich meines Erachtens erklären, wenn meine Romanfigur etwas für mich zunächst Unerwartetes fühlt oder tut. Lediglich wenn dies ihrem Charakter völlig zuwider liefe, was hier aber nicht der Fall ist, müsste ich die Kreation der Figur in ihrer Logik erneut überdenken.
In einem Umfang, in dem es die Handlung
nicht über die Maßen beeinflusst,
finde ich es somit vollkommen unproblematisch,
den Romanfiguren Autonomie zuzugestehen.
Und deshalb habe ich meiner Hauptfigur ihre Schwärmerei durchgehen lassen. Denn eine Hauptfigur darf bzw. muss ja – insbesondere zu Beginn ihrer Entwicklung innerhalb eines Romans – durchaus auch Fehler machen. Und wer weiß, vielleicht beeinflusst sie ja ihren Schwarm positiv?! Alles ist möglich.
Die Autonomie der Figuren kann natürlich auch
neue Ideen liefern, deren Verwendung nicht im
Widerspruch zum vorherigen Plotten stehen muss.
Fazit
Natürlich besteht die Gefahr, dass die Handlung aus dem Ruder läuft, d. h. sich in eine vollkommen unbeabsichtigte Richtung bewegt, falls sich eine Figur völlig anders entwickelt als geplant. Meiner Einschätzung nach sollte dies aber bei guter Vorbereitung eigentlich unwahrscheinlich bleiben. Da ich vorab den gesamten Roman detailliert geplottet habe, kann ich mich an diesem Mikroplot orientieren und so meinen Romanfiguren einen gewissen autonomen Entscheidungsspielraum gewähren, ohne dass sie damit allzu großes Chaos anrichten. Für mich überwiegt hier eindeutig der Vorteil, der zugleich ein häufig gegen die Methode des Plottens vorgebrachtes Argument entkräftet.
Wenn ich meinen Romanfiguren auch autonome Entwicklung gestatte,
verhindert das vorangegangene Plotten nicht,
dass im Schreibprozess Überraschung, Dynamik und Spannung
auch für mich als Schriftstellerin bestehen bleiben.
Ich sehe Romanfiguren jetzt ein bisschen wie meine Kinder
Man kreiert sie und gibt ihnen Eigenschaften mit auf den Weg (ähnlich der Zeugung und Geburt), versucht dann, sie ein wenig zu formen (ähnlich der Erziehung durch die Eltern), bis man sie dann in die Romanwelt entlässt, wo sie ihren eigenen Weg finden und eigene Erfahrungen und Fehler machen dürfen (ähnlich dem Leben als Erwachsene).
Der Vergleich passt natürlich nicht hundertprozentig und in jeder Hinsicht, denn Romanwelt und -figuren sind selbstverständlich von uns Schriftstellenden deutlich stärker beeinflusst und geformt als die Lebenswelt eines Menschen sowie dieser selbst von seinen Eltern (zumindest sollte das so sein). Aber ich mag das Bild trotzdem – auch weil ich mich meinen Figuren durchaus recht eng verbunden fühle. Man sehe mir als derzeitige Erstlingsautorin diese kleine Sentimentalität nach.
Kein Rezept für Romanfiguren
Was ich hier über meine Romanfiguren schreibe, basiert natürlich ausschließlich auf meinen individuellen Eindrücken und Erfahrungen, bezogen auf mein aktuelles Romanprojekt. Ich erhebe somit keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Aussagen über die Herangehensweisen, mit denen ich arbeite. Denn beim Schreiben von Romanen existiert eine nahezu unüberschaubare Vielzahl prinzipiell gleichberechtigter Vorgehensweisen. Deren Wahl hängt von vollkommen individuellen Faktoren ab, beispielsweise dem Genre des Romans oder den Vorlieben der Schreibenden.
Ich habe hier ganz ausdrücklich nur
meine ganz persönliche Vorgehensweise
für einen Fantasyroman mit der Zielgruppe
Jugendliche/Young Adult vorgestellt.
Aber wie seht ihr dieses Thema? Welche Erfahrungen habt ihr mit der Kreation und Entwicklung eurer Romanfiguren gemacht? Mögt ihr es, wenn sie sich autonom entwickeln oder sollen sie sich lieber genau nach euren Vorgaben verhalten?
Ich bin gespannt auf eure Kommentare!
Links & Weiterführendes
- Beitrag über Schreibideen
- Beitrag zum Plotten der Romanhandlung
- Pinterest als Quelle für die Bildersuche
- Tipps zum Kreieren von Romanfiguren bei meinem Lektoren-Kollegen Kanut Kirches (der übrigens auch Coaching für Autorinnen und Autoren anbietet)
- Tipps zum Erschaffen intressanter Romanfiguren von der Schreibtrainerin Dr. Annette Huesmann (die auf ihrer Website als langjährige Autorin und Dozentin übrigens insgesamt für Schriftstellende nützliche Inhalte bietet, u. a. Seminare, Schreibberatung und einen informativen Blog)
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